"After Dreaming" – eine Geschichte von Elodie Hartmann - Young Circle

«After Dreaming» – eine Geschichte von Elodie Hartmann

Member Stories 2023

«After Dreaming» – eine Geschichte von Elodie Hartmann

Der kleine Eisbär sitzt verloren auf seiner Scholle. Die Kinderarbeit hat schon begonnen und endet nie,
wie auch die Fabriken endlos rauchen und zahllose eingesperrte Tiere
in ihren Käfigen um die Wette fauchen. In meinen Kopf ist kein Platz für so viel Leid. Ich sehe zwar Handlungsbedarf weit und breit, aber kann man überhaupt je so viel verändern?

Ein neuer Tag bricht an
Die Sonne vertreibt die Nacht
Dunkelheit und Licht treffen sich im Raum, doch ich merke es kaum.
Nur langsam setzt sich die Realität vor meinem inneren Auge zusammen.
Ich weiss nicht mehr, was genau
passiert war, aber die perfekte Welt war zum Greifen nah.
Übrig blieb mir nur das wohlige Gefühl von meinem einstigen Traum.

Während sich viele noch in ihren Betten wälzen,
fällt mir ein, dass an den Polen die Gletscher schmelzen.
Der kleine Eisbär sitzt verloren auf seiner Scholle.
Die Kinderarbeit hat schon begonnen und endet nie,
wie auch die Fabriken endlos rauchen und zahllose eingesperrte Tiere
in ihren Käfigen um die Wette fauchen.
Aber ich kann sie nicht hören.
Oder ihre Verzweiflung spüren oder die rauen, wunden
Kinderhände in meine nehmen.
In meinen Kopf ist kein Platz für so viel Leid.
Ich sehe zwar Handlungsbedarf weit und breit, aber kann man
überhaupt je so viel verändern?

Irgendwo da draussen, wird gerade ein Schwein bei vollem Bewusstsein
aufgeschlitzt und das Blut fliesst auf den Boden, wie dies
von dem Mädchen, dass sich versteckt in einer Ecke ritzt.
Wasser spült die Fliesen rein und das Mittelmeer die Ertrunkenen fort
und in meinen Gedanken wird es zu einem weit entfernten Ort.
Die Menschen waren noch nicht bereit zu sterben, doch ihre Todesangst ist ein Kontinent entfernt und bleibt unerwähnt.
Mein Verstand ist abgestumpft.
Das Böse hat übertrumpft.

Puh, das war jetzt echt unbequem.
Vielleicht denkt ihr, hätte mich mein Anstand hemmen müssen,
die Dinge so klar beim Namen zu nennen, aber meine Schultern
tragen die Last nicht länger.
Vielleicht ist der Mensch nicht in der Lage, Empathie zu empfinden,
denn wenn es nicht so wäre, wärt ihr jetzt nicht hier und hörtet mir zu.
Ihr könntet euch nicht mehr auf euren Stühlen halten, würdet
herumrennen, bis die Welt von
allem Unrecht und Elend befreit wäre.
Das Smartphone auch mal ausschalten und einmal so
lange zuhören, bis es tatsächlich nichts mehr zu erzählen gibt.
Aber wir sind viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt, hängen
unseren eigenen Gedanken nach und schliessen lieber die
Augen, um uns von unserem Alltag zu erholen.
So bangen weit entfernt Menschen um ihre Zukunft,
die Natur stirbt ihren leisen Tod und ich sehe nichts davon.

Ich bleibe lieber in meinem Bett und halte mir das Kissen vors Gesicht.
Meine Augen füllen sich mit Bildern einer fiktiven Realität.
Entsprungen aus reiner Vorstellungskraft. Imagination. Suggestion.
In der alles heller und fröhlicher scheint als da draussen.
Während ich in meine Scheinwelt eintauche, atme ich reine Luft, die
nicht von Abgasen verschmutzt ist und mich krank macht, höre keine
sexistischen Sprüche, weil niemand darüber lacht.
Aber wie bereits gesagt, ist alles nur ausgedacht.

Ich schlage meine Augen auf, aber blicke mich nicht um.
Ich bin noch nicht bereit für die Welt um mich herum.
Es gibt so viele Baustellen, dass ich nicht weiss, wo ich anfangen soll,
und so bleibe ich wie gelähmt und lasse es einfach vorüberziehen.
«Fake it, ‘till you make it!», sagten sie und früher oder später leg‘ ich
wahrscheinlich wieder los und nehm’ es Stück für Stück, lebe Tag für Tag
und fühl mich wieder stark.
Aber in diesem Moment, erdrückt von der Realität,
habe ich vergessen, wie das geht.
Vielleicht ist es ja auch schon zu spät.

Aber wisst ihr was? Ich will mich nicht länger verstecken in meiner Dunkelheit,
die meine Ängste zwar verschleiert, sie aber stets immer durchschillern lässt.
So stehe ich endlich auf, unbeschrieben und gehe in die ach so schlimme Welt hinaus.
Unversehens finde ich eine helfende Hand, aber nicht von einem Ritter in wehendem Gewand, sondern von einem ganz normalen Menschen.
Seine Stimme pulsiert nicht, sondern malt mit gedeckten Farben, während meine Gedanken kreisen.  
Ich gestehe, dass ich eigentlich nur im Dunkeln tapp’
und sehe, dass ich nicht die Einzige bin, die das Streichholz verloren hat.
Wir laden uns gegenseitig in unsere Träume ein,
und der Schein beginnt in unserer Schnittmenge real zu sein.

Ich sehe wieder die Schönheit dieser Welt,
denn letztendlich wurde sie von niemandem erstellt,
sondern besteht aus vielen kleinen lebenden Wundern.
Jedes Lebewesen, jeder Strauch und Baum ist vielfältiger als in meinem Traum.
Die wahre geht über die Scheinwelt weit hinaus und Mutter Natur gehen nie die Ideen aus.
Ich springe über die Klippe und tauche ins kühle Nass oder laufe durch den Wald und denk mir einfach: Krass!
So viel Vieles an einem kleinen Fleck.
Das Astloch dient noch als Versteck und das Blatt als einziger Mikrokosmos.

Wer kann bei so viel Zusammenhalt noch an das Böse glauben?
Zwischen Sonnenaufgängen, die mir den Atem rauben,
und den warmen Händen liegt meine Hoffnung.
Ich sehe sie nicht in meinen, sondern unseren Augen.
So viele kann man nicht gleichzeitig auslaugen.
Ab und zu schaffe ich mir noch eigene, kleine Räume und ziehe mich zurück in meine Träume.
Vielleicht wird das irgendwann nicht mehr nötig sein,
aber bis dahin lade ich euch zu mir ein,
und gemeinsam tanken wir Kraft,
lachen über das Leben
und teilen die Hände, die uns Hoffnung geben.

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