"Ihre haselnussbraune Augen" - Eine Geschichte von Jennifer Schürch - Young Circle

«Ihre haselnussbraune Augen» – Eine Geschichte von Jennifer Schürch

Member Stories 2023

«Ihre haselnussbraune Augen» – Eine Geschichte von Jennifer Schürch

Eine Entscheidung scheint nur ein intuitiver Gedanke zu sein, der zu einer entsprechenden Handlung führt. Jeden Tag treffen wir zahlreiche Entscheidungen. Sie sind alltäglich, scheinen einflusslos.
Aber seine Entscheidung hat mich verändert.
Sie hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und liess mich nicht mehr ich selbst sein.

25 Jahre ist es nun her und doch fühlt es sich an, als würde es erst einige Tage zurückliegen. Ich kann nicht loslassen. Ich kann seine Entscheidung vor 25 Jahren mit aller Mühe nicht akzeptieren. Sie war falsch. Und sie wird mich mein restliches Leben lang verfolgen. Ich werde den Gedanken nie loslassen können, wie es wohl wäre, wenn er an diesem Tag anders entschieden und gehandelt hätte. Wäre ich glücklicher? Hätte ich ein besseres Leben? Das sind all die Fragen, die mich am Abend vor dem Einschlafen heimsuchen und sich wie ein Parasit in meinem Kopf einnistet.

Es ist Halloween. Kürbisse mit verschiedenen Gesichtern stehen vor den Häusern. Die Stadt wird von einem silbernen Schleier verhüllt, der sich in den Spinnennetzen festsetzt und die Spitzen der Grashalme einfrieren lässt, sodass sie unter den Füssen leise knistern. Ich sitze vor dem warmen Kamin, in eine Wolldecke eingekuschelt. Währenddessen schaue ich der Sonne zu, wie sie anmutig unter den Horizont taucht und vorübergehend ein warmes Licht auf die Stadt wirft, ehe sie von der Dunkelheit verschluckt wird.

Das Klingeln der Haustür reisst mich aus meiner Gedankenreise und holt mich zurück in die Realität. Das müssen wohl die ersten Kinder sein, die um die Häuser ziehen und mit ihren niedlichen Kostümen, um Süsses oder Saures betteln. Als ich die Haustür vorsichtig öffne, springen von allen Seiten verkleidete Kinder aus dem Gebüsch und rufen wie aus einem Mund: «Gib mir Süsses, sonst gibt’s Saures!»

Hexen, Gespenster, Vampire, sogar kleine Katzen schauen mich mit erwartungsvollen Augen an und halten mir ungeduldig die Hand hin. Meine Gedankenwelt hat mich schon wieder in sich hineingezogen. Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn mein Kind auch hier stehen würde. Ich stelle mir vor, wie es mich anlächelt und wie ich alle darum gebeten hätte, näher zusammenzurücken, um den Moment mit einer Kamera für immer festzuhalten.

Ein kleines Mädchen, als Hexe verkleidet, tritt näher zu mir heran und umarmt meine Beine. Ich schaue sie völlig überrascht an. Verdutzt schüttle ich den Kopf und höre meine eigene Stimme fragen, was sie da tue. Anstelle mich loszulassen, schenkt mir das Mädchen mit den haselnussbraunen Augen ein breites Lächeln und antwortet mit völliger Selbstverständlichkeit: «Du hast traurig ausgesehen. Also wollte ich dich umarmen, dann geht’s jedem besser.» Ich lächle in mich hinein. Sie hat recht.

Nachdem ich meine Süssigkeiten gerecht aufgeteilt habe, sind sie zufrieden zum nächsten Haus gegangen und haben sich dort wieder versteckt und dabei kaum ruhig sein können.

Ich schliesse die Tür hinter mir und atme tief ein, um mich wieder zu entspannen. Das Mädchen von vorhin hat mich innerlich wieder völlig aufgewühlt. Ich habe gedacht, dass ich damit leben kann. Ich habe gedacht, dass ich diese Leere in mir irgendeinmal füllen kann, dass es nicht länger ein Loch in mir gibt, welches mich innerlich auffrisst.

Nach langem Überlegen bin ich zum Entschluss gekommen, noch ein letztes Mal die Kiste, gefüllt mit Erinnerungen, zu öffnen und in die Vergangenheit einzutauchen. Im dunkelsten Ecken auf dem Dachboden, wo sich niemand freiwillig hinwagen würde, weil dort die Spinnen und Ratten wohnen, liegt eine kleine hölzerne Kiste auf dem Boden. Sie ist mit einer dicken Staubschicht überzogen. Seit 25 Jahren liegt sie hier unberührt und wartet darauf, geöffnet zu werden. Ich setze mich auf den Boden, wo ein schmaler Lichtschein die Wände passieren kann und den schmutzigen Boden beleuchtet. Die Sonne kitzelt mich an der Nase. Als ich den Staub von der Kiste puste, tanzen die Partikel in der Luft und werden von meinem Atem herumgewirbelt. Ein vertrauter Geruch steigt mir in die Nase. Das Parfüm, dass ich damals immer trug. Ich wühle in der Kiste und finde Fotos vom Ultraschall, Fotos von mir auf dem Geburtsbett, Fotos vom Neugeborenen beim Weinen, Fotos von mir mit diesem Glitzern in den Augen, als ich es im Arm halte. Dieses Glitzern ist mit dem Kind verschwunden.

Alles geschah vor 25 Jahren, als ich mit meinem Freund gerade fünf Jahre zusammen war. Wir waren glücklich und wir glaubten, uns bis in die Ewigkeit zu lieben. Doch dann traf uns ein Schicksalsschlag: Ich wurde ungewollt schwanger. Mein Freund wollte, dass ich abtreibe. Ich war aber anderer Meinung als er. Wir haben uns deswegen häufig gestritten und kaum noch geliebt, aber wir blieben zusammen. Neun Monate später hat er mich ins Spital gebracht, als meine Fruchtblase geplatzt ist. Ich habe das Kind geboren. Es war ein Mädchen. Sie hatte dieselben haselnussbraunen Augen wie das Mädchen an Halloween. Und sie hatte dasselbe Lächeln wie sie. Nach all den Streitereien und einer instabilen Beziehung habe ich mich endlich wieder ich selbst gefühlt, als ich mein Mädchen das erste Mal halten durfte. Ich war glücklich. Aber nur vorübergehend.

Am nächsten Tag haben mir die Ärzte mitgeteilt, dass mein Kind in der Nacht verschwunden sei und dass sie es nicht wieder auffinden könnten.

Einige Tage später, die ich in völliger Angst und Trauer verbracht habe, hat mir mein Freund gestanden, dass er das Kind in die Babyklappe gelegt hat. Er hat mir erzählt, dass er mit der Situation überfordert war, mich aber auch nicht im Stich lassen wollte. In seinen Augen sei dies die einzige Lösung gewesen.

Für mich ist die Welt zusammengebrochen.

Ich habe gewusst, dass ich mein Kind nie mehr sehen werde.

Wir haben uns getrennt.

Seit jenem Tag lebe ich in ständiger Trauer, die sich nicht abschütteln lässt.

Und dann kam das Mädchen an Halloween, dass meinem Mädchen so ähnlich gesehen hat. Ich hätte beinahe wetten können, dass sie es ist, dass ich sie wiedergefunden habe.

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