"Die Melodie der Vergangenheit" – eine Geschichte von Sara Brand - Young Circle

«Die Melodie der Vergangenheit» – eine Geschichte von Sara Brand

Member Stories 2020

«Die Melodie der Vergangenheit» – eine Geschichte von Sara Brand

Das Haus sah verlottert aus, die Namen an den Klingelschildern waren unlesbar. Ich drückte gegen die Haustür, sie war unverschlossen.

Dieser kleine Schritt über die Türschwelle war ein riesiger Schritt für mein Leben, ich stöberte hier in dem alten Haus meines Vaters herum. Doch als ich meine Sorgen gegenüber meinem Freund ansprach, verstand er diese nicht und meinte nur: »Das Haus ist ein “Lost Place” und wir Urbexer haben die Aufgabe, diese verlassenen Orte zu erkunden, zu dokumentieren und in möglichst vielen Köpfen verankern. Das,  was wir hier machen,  ist nichts Illegales!» Ich verdrehte nur die Augen und versuchte gar nicht ihm meine Sorgen, das sich noch jemand im Haus befinden könnte, zu erklären.

Unsere Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und wir nahmen die ersten Möbel im Haus wahr. An den Fenstern hingen zerrissene Vorhänge, die den riesigen Garten in der Dunkelheit nur erahnen liessen. Am anderen Ende des Wohnzimmers stand ein sehr alter verlotterter Flügel, bei dem sogar einige Tasten fehlten. «Ich wusste gar nicht dass mein Vater Pianist ist, meine Mutter hatte mir nie davon erzählt,» brachte ich unter Tränen hervor. Mein Freund nahm mich in die Arme und versuchte mich zu trösten, doch über die Trauer zu meinem Vater brachten mich auch nicht seine Küsse. Es gab so viele Dinge, die ich nicht über meinen Vater wusste.

«Kannst du mir etwas vorspielen?» Fragte Olivier nach einiger Zeit. Er stand vor dem alten Flügel und drückte einige der Tasten. Der Flügel war zwar schon sehr verlottert, doch als ich einige der Tasten drückte, tönten diese überhaupt nicht schief oder verstimmt. So als ob jemand in der letzten Zeit darauf gespielt hätte. Als ich die Tasten eingehender betrachtet, fiel mir auf, dass einige davon gar keine Staubschicht auf sich trugen.

Olivier streckte mir ein vergilbtes Blatt entgegen, das er zwischen den Tasten herausgezogen hatte und fragte mich, ob ich das spielen könne. Das musste ich mir nicht lange überlegen und setzte mich auf den alten Klavierhocker. Als ich meine Finger auf die Tasten legte, wusste ich sofort,  was spielen, obwohl ich diese Melodie noch nie gesehen oder gespielt hatte, kam sie mir so bekannt vor als würde ich sie jeden Abend zum Einschlafen hören. Ich spielte und spielte, ich musste dabei nicht einmal auf die Noten schauen, ich wusste einfach, was ich spielen hatte. Erst als Olivier ein leises keuchen ausstiess, erwachte ich aus der Trance, die mich wie gefangen hielt. Und nun verstand ich auch den Grund für Oliviers plötzliches Aufkeuchen. Denn hinter mir stand ein Mann mit grauem verfilztem Haar und fahler, verfallener Haut, die darauf hindeutete, dass dieser Mann nicht oft an der Sonne war. Erst als ich das zweite Mal genauer hinschaute, sah ich seine grünen Augen, die mit braunen und blauen Sprenkeln überzogen waren. Genau diese Augen sehe ich jedes Mal wenn ich in einen Spiegel schaue und auf genau diese Augen sind meine Freundinnen alle eifersüchtig und auch genau diese Augen habe ich von meinem Vater geerbt wie meine Mutter immer sagt. Schlagartig wurde mir bewusst, wer mir da gegenüberstand: Mein Vater wie er leibt und lebt. In diesem Augenblick stahl sich eine winzige Träne in meinen Augenwinkel und ich fiel ihm in die Arme, meinem Vater, den ich so lange gesucht und nie gefunden hatte, der Mann, von dem meine Mutter nur die schrecklichsten Geschichten zu erzählen hatte, denn ich aber trotzdem kennenlernen wollte und von dem ich glaubte, er wäre für immer verschwunden.

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