"Zuckerwatten-Zahnpasta und andere Albträume" - eine Geschichte von Helin Hatun - Young Circle

«Zuckerwatten-Zahnpasta und andere Albträume» – eine Geschichte von Helin Hatun

Member Stories 2020

«Zuckerwatten-Zahnpasta und andere Albträume» – eine Geschichte von Helin Hatun

Den Geschmack der Zahnpasta hat sie immer noch im Mund. Eine Mischung aus Zuckerwatte und Minze. Sie steht auf und verlässt das warme Bett.

Sie erträgt diesen Geschmack nicht mehr, will ihn so schnell wie möglich loswerden. Im Badezimmer angekommen, sieht sie ihr Spiegelbild an. Fast schon erstaunt, weil sie so erschöpft aussieht. Seit wann hat sie so deutliche Augenringe? Wann hat sie aufgehört, jeden Morgen ihre Gesichtsmaske aufzutragen? Sie selbst weiss es auch nicht.  Die letzte Rolle Toilettenpapier hängt am Halter. Der Spiegel ist mit Flecken bedeckt und sie muss eine kleine runde Fläche mit Feuchttüchern putzen, um sich selbst genauer betrachten zu können. Ihre Zahnbürste liegt in einem kleinen Etui. Blau mit grünen Streifen. Sie nimmt die Zahnbürste in die rechte Hand und säubert mit der Linken nochmals den Spiegel. Heute ist Montag. Als Kind hat sie mit ihrer Mutter ein kleines Spiel gespielt und an jedem Wochentag eine Zahnpasta mit einem anderen Geschmack benutzt. Montags die mit Minze, dienstags Erdbeere, mittwochs nochmals Minze, aber etwas süsslicher als die vom Montag, donnerstags eine Mischung aus Kokosnuss und Minze und freitags die scharfe mit Zimt. Und am Wochenende immer die Kokos-Zahnpasta, denn diese war ihre Liebste. Sie liebte es, ihre Zähne zu putzen, mit ihrer Mutter jeden morgen vor dem Spiegel im Badezimmer zu stehen, jeden Tag einen anderen Geschmack auszuprobieren, Zahnbürsten in verschiedensten Farben zu haben und schlussendlich jeden Tag stolz mit weissen Zähnen lächeln zu können. Sie war stolz, diese Leidenschaft mit ihrer Mutter zu teilen. Es war ein Ritual, das sie nur mit ihrer Mutter teilte, und ihre Mutter nur mit ihr. Heute liegt nur eine schon fast leere Tube Zuckerwatten Zahnpasta auf dem Becken. Sie hat wieder mal vergessen, neue Zahnpaste zu kaufen, obwohl sie den Geschmack der Zuckerwatte hasst. Mit der Hoffnung, den scheusslichen Geschmack vielleicht doch noch loszuwerden, säubert sie kurz ihre Zahnbürste mit Wasser und drückt das letzte bisschen Zahnpasta aus der Tube raus. Geekelt fängt sie an, die untere linke Reihe zu putzen. Kreisbewegungen oder Hin- und Herbürsten? Und fängt sie wirklich jeden Morgen links an? Verwirrt nimmt sie Zahnbürste aus dem Mund. Zuerst die Aussenfläche? Oder die Innenfläche? Panisch betrachtet sie ihre Zahnbürste. Die Zahnpasta hat sich fast vollständig aufgelöst. Hat sie zu wenig aufgetragen? Aber dieser widerwärtige Geschmack. Soll sie mehr auftragen?  Schweissperlen bilden sich auf ihrer Stirn, ihre Hand umschliesst immer fester die Zahnbürste, ihre Nägel bohren sich in ihre Hand ein, mit weit aufgerissenen Augen starrt sie sich im Spiegel an und sieht, dass Tränen über ihr Gesicht laufen. Seit wann sie weint und wie lange sie schon im Badezimmer steht weiss sie nicht. Ein Anruf weckt sie aus ihrer Trance, sie geht in ihr Zimmer und nimmt das Telefon ab. Es ist ihre Schwester, die sagt, dass sie in einer Stunde sie abholen werde. Schnell zieht sie sich eine schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd an und packt ihre Tasche. Heute ist Montag. Vor genau einem Jahr ist ihre Mutter gestorben. Auf dem Weg zu ihrem Grabe kauft ihre Schwester noch Blumen und eine Grabkerze. Weder die Freude am Zähneputzen noch am Leben hat sie im vergangenen Jahr wiederentdeckt. Das Leben ging für alle weiter, doch an ihr ging es vorbei. Als sie wieder zuhause ist und ins Badezimmer geht, sieht sie ihre Zahnbürste mit immer noch ungelöster Zahnpasta im Waschbecken. Das letzte Krümchen Mut und Leben in ihr steuert ihre Hand, sie nimmt die Zahnpaste mit Zuckerwatten-Geschmack und die Zahnbürste und wirft beides in den Mülleimer. In ihrem Nachthemd steigt sie in ihr Auto, fährt zur nächsten Tankstelle, kauft eine weisse mit kleinen roten Einhörnern verzierte Zahnbürste und Kokoszahnpasta, fährt zurück und steht wieder vor dem Spiegel. Mit den Kauflächen fängt sie an, putzt dann die Außenflächen und zuletzt die Innenseiten ihrer Zähne, drückt weder zu stark noch zu wenig, und stellt sogar ihre kleine Sanduhr auf, um perfekte drei Minuten lang zu putzen. Tränen steigen in ihre Augen, aber dieses Mal aus Freude, denn sie hat sich ihrer Mutter noch nie so nah gefühlt wie heute. Mit einem stolzen Lächeln im Gesicht geht sie in ihr Bett und freut sich schon jetzt morgen aufzuwachen und als Erstes sich die Zähne zu putzen.

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