"Der Obdachlose" - eine Geschichte von Sarah Hunziker - Young Circle

«Der Obdachlose» – eine Geschichte von Sarah Hunziker

Member Stories 2020

«Der Obdachlose» – eine Geschichte von Sarah Hunziker

Es hatte wieder einmal Stau. Von der grossen Brücke bis zum Tunnel, der in den Berg hineinführte, der mich stets mit seinen felsigen Augen zu betrachten schien.

Vor mir stand ein uralter roter Van, dessen Farbe bereits abblätterte, wie die Haut einer Schlange. Es ertönte laute Musik aus dem Fahrzeug, die mich fast zum Wahnsinn brachte. Ich konnte diese moderne Musik einfach nicht ausstehen. Mit der Zeit konnte man einige hundert Meter entfernt die Autobahnraststätte erkennen. Täglich fuhr ich an ihr vorbei. Im Sommer, wie auch im Winter. Manchmal wünschte ich mir, dass mein Weg zur Arbeit nicht so lange wäre. Doch aus irgendeinem Grund, den ich bis heute noch nicht verstand, hatte ich das Gefühl, dass ich diese Zeit, alleine in meinem kleinen Audi, einfach brauchte. Bald befand sich das alte Gebäude mit dem kleinen Lebensmittelladen und der eingealteten Tankstelle direkt neben mir. Ich warf einen Blick nach draussen. Es schien mir, als ob sich nichts verändert hatte im Vergleich zu gestern, als ich hier durchgefahren war. Der Obdachlose, der schon seit Jahren auf der Bank neben dem Laden wohnte, sass auf dem Boden und nagte an einem harten Stück Brot, die ihm der Ladenbesitzer jeweils mit grimmigem Blick schenkte. Der Mann hatte aschfahles Haar, dass nur noch wenige Stellen seiner Kopfhaut säumte. Sein Gesicht schien mir von Tag zu Tag älter und runzliger. Und die Kleidung, die scheinbar schon ewig seinen dürren Körper zu bedecken schien, war durchlöchert, schmutzig und abgenutzt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass seine grauen traurigen Augen für einen kurzen Moment in meine Richtung blickten. Doch wahrscheinlich bildete ich mir das Ganze bloss ein.

Ich begegnete diesem Obdachlosen fast täglich. Doch jedes Mal, wenn ich ihn mitleidig und zugleich auch empört musterte, kamen neue Gedanken und Emotionen in mir hoch. Es dünkte mich, dass ich diesen Mann kannte, so als ob ich ihm tief in die Seele blicken konnte. Doch seit all den Jahren, in denen er bloss seine Existenz preisgegeben hatte, hatten wir kein einziges Wort gewechselt. Ich war ihm nicht einmal näher als bis zur Autobahnabsperrung gekommen, da mich dieser schäbige Laden nicht zum Einkaufen einlud.

Doch eines Morgens, als ich aufgestanden war, bemerkte ich sofort, dass etwas anders war. Ich glaubte zu spüren, dass etwas fehlte. So wie wenn ein kleines Stück meines Herzens in der Nacht gestohlen worden war. Ich betrachtete mich vor dem Spiegel und suchte überall nach Hinweisen, doch fand nichts, was darauf hindeutete. Ich rief sogar meine Eltern an, um zu überprüfen, dass ihnen nichts fehlte. Doch im Altersheim am Stadtrand vorne war alles in Ordnung. Also gab ich mich damit zufrieden, dass ich mir wie so oft etwas einbildete und machte mich auf den Weg zur Arbeit.

Egal wie sehr ich versuchte, das Gefühl zu verdrängen, tauchte es immer wieder auf. Es war ein regnerischer trüber Tag. Das Wasser fiel in Strömen vom Himmel und liess die umgebene Landschaft in ein tiefes grau färben. Da man bei dem Regen kaum mehr die Strasse erkennen konnte, stockte der Verkehr. Ich kam nur schleichend voran. Mit einem Blick auf meine Uhr bemerkte ich, dass meine Arbeitszeit schon längst begonnen hatte. Ich wollte meinem Chef eine Nachricht hinterlassen, dass ich etwas später kommen würde, als plötzlich ein tiefer Schmerz in meinem Herzen erschien. So schnell wie er gekommen war, war er auch schon wieder weg. Verwirrt blickte ich nach draussen, wo die Autobahnraststätte langsam an mir vorbeischwebte. Kaum hatte ich sie erblickt, bemerkte ich das etwas nicht stimmte. Erst bei genauerem Hinschauen, was durch die Wassermengen kaum möglich war, stellte ich fest, dass der Obdachlose nicht wie gewohnt auf der Bank sass, oder hinkend seine kleinen Kreise drehte. Jedes Mal, wenn ich mich später an diesen Moment erinnerte, lief mir ein Schauder über den Rücken. Wie in Trance lenkte ich meinen Wagen auf die äusserste Spur und passierte die Einfahrt. Ich hielt auf dem kleinen Parkplatz vor dem Laden und stieg aus. Auf einmal fragte ich mich, warum ich das jetzt getan hatte. Ich war schliesslich schon genug spät dran. Doch etwas, ich wusste nicht ob es ein Gefühl oder ein Instinkt war, trieb mich weiter. Ich betrat den muffigen Laden und fragte mich, wer hier bloss einkaufen geht. Man musste schon in letzter Not sein, um sich für diese Bude zu entscheiden. Ich interessierte mich gar nicht für die Lebensmittel und anderen Dingen, die sich in den Regalen türmten und lief zielorientiert zur Theke. Ein älterer Mann mit einem langen Bart begrüsste mich etwas barsch und fragte mich, ob ich Hilfe brauche. Bei dem Gestank von Alkohol und Zigaretten der aus seinem mit Piercings übersätem Mund kam, musste ich einen Schritt zurücktreten.

Er reagierte sichtlich verdutzt, als ich mich nach dem Obdachlosen erkundigte.

«Der alte Sack ist gestern Nacht gestorben. Um ehrlich zu sein hat mich das nicht gross überrascht.», antwortete er mir mit seiner rauchigen Stimme und kehrte mir wieder den Rücken zu, nachdem ich mich knapp bei ihm für die ausführliche Antwort bedankt hatte. Gedankenverloren ging ich aus dem Laden und setzte mich zurück in mein Auto. Ich glaubte zu wissen, dass ich nun herausgefunden hatte, warum ich mich am Morgen so komisch gefühlt hatte. Die ganze Fahrt zu meinem Büro musste ich an den Obdachlosen denken. Und es schien mir, wie wenn mein Leben nun anders sei, weil irgendein Mann, der auf einer Bank lebte, und den ich nicht gekannt hatte, verstorben war. Ich regte mich auf, dass es mich so aufbrachte, bis ich schliesslich in der Tiefgarage meines Geschäft angelangt war. Während ich aus dem Auto stieg, redete ich mir ein, dass ich meine Gefühle und Gedanken wieder einmal nicht unter Kontrolle hätte, ich einfach einen schlechten Tag hatte und das beim Aufstehen gemerkt hatte. Für den Moment liess mich diese Antwort zufrieden.

Doch ab diesem Tag an, fehlte etwas Unbeschreibliches in meinem Leben. Und jedes Mal, wenn ich an der alten Autobahnraststätte vorbeifuhr, musste ich an den Obdachlosen denken.

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