"Wenn das Paradies zum Albtraum wird" - eine Geschichte von Oriana Bruseghini - Young Circle

«Wenn das Paradies zum Albtraum wird» – eine Geschichte von Oriana Bruseghini

Member Stories 2020

«Wenn das Paradies zum Albtraum wird» – eine Geschichte von Oriana Bruseghini

Die Nacht war kalt und stürmisch, als das Abenteuer begann. Ich hatte bei einem Wettbewerb ein Haus in Spanien gewonnen, direkt am Meer. Kurz davor hatte ich meinen Job, meinen Hund und meine Wohnung verloren. Deswegen wohnte ich bei meiner besten Freundin Sofia.

Eine knappe Woche später stand ich also mit meinen sieben Sachen am Bahnhof und verabschiedete mich von Sofia. Als ich meinen Koffer verstaut hatte und an meinem Platz sass, öffnete ich nochmals das E-Mail mit dem Betreff „Gratulation“ und dem Bild des Hauses. Also eigentlich kein Haus, sondern eine Villa. Eine wunderschöne, weisse Villa.

Jedoch war die Villa alles andere als weiss und wunderschön, als ich ankam. Es war bereits Nacht, stürmisch und kalt. Die Villa war steinalt und sah aus, als würde sie bald zusammenbrechen. Nach langem Überlegen entschied ich mich, die Villa trotzdem zu behalten und sie zu restaurieren. Es dauerte fast zwei Jahre. Ich lernte in dieser Zeit auch, von den nahen Klippen zu springen.

Als die Villa fertig war, machte ich sie zu einem Gästehaus und gab ihm den Namen Paradies, denn genau das war es für mich. Kurz nach der Eröffnung kam Sofia zu Besuch. Einen knappen Monat später stand sie schon wieder vor der Tür. Unangekündigt. Als ich sie herein bat, gab sie mir eine Mappe. Es war ihre Bewerbung für die Stelle, die ich ausgeschrieben hatte. Ich stellte sie direkt ein. Wir gingen zusammen zu den Klippen und sprangen einige Male ins Wasser.

In der Hochsaison waren wir über drei Monate komplett ausgebucht. Zusammen mit Sofia, Paul, dem Koch, Mara, der Chefkellnerin, Max, dem Rettungsschwimmer, und den anderen Angestellten hatten wir alle Hände voll zu tun. Abends sassen wir hinter der Villa am Lagerfeuer und redeten bis tief in die Nacht hinein. Einmal wollten Paul und Sofia unbedingt noch Klippen springen gehen. Ich versuchte sie davon abzubringen, da es schon dunkel war, und keiner von beiden geübte Klippenspringer waren. Jedoch liessen sie sich nicht davon abhalten. Also blieben Max und ich alleine beim Feuer. Ich machte mir bald schon keine Sorgen mehr wegen Sofia und Paul.

Doch plötzlich hörten wir einen Schrei aus Richtung der Klippen. Wir rannten sofort zum Meer. Paul rief um Hilfe. Sofia lag auf dem Wasser. Max sprang ins Wasser und zog Sofia heraus. Er weinte. Ich nahm mein Telefon und rief ein Notfallauto. Sie nahmen Sofia mit. Im Spital war alles sehr hektisch. Wir mussten fast drei Stunden warten, bis eine Krankenschwester auf uns zukam. Sie bat uns in ein Zimmer. Wir setzten uns auf ein schwarzes Sofa aus Leder. Es roch nach Desinfektionsmittel. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Und dann sagte die Krankenschwester den Satz, welchen ich so sehr befürchtete, jedoch bis zur letzten Sekunde zu verdrängen versucht: „Sofia Thomsen ist leider auf dem Weg ins Krankenhaus von uns gegangen. Wir konnten sie nicht mehr retten.“

Ich wollte es nicht glauben. Ich schrie. Ich schrie Paul, Max und die Krankenschwester an. Sofia war die wichtigste Person in meinem Leben. Und jetzt war sie tot.

Ich entschied mich dazu, das Gästehaus für eine Weile zu verlassen. An diesem Ort gab es zu viele Erinnerungen an Sofia. Also stieg ich am Bahnhof in den ersten Zug und stieg an der Endhaltestelle aus. Ich war in Madrid gestrandet.

Da bin ich jetzt also. Ich versuche, mich zu beruhigen. Einen klaren Kopf zu bekommen. Wer weiss, vielleicht kehre ich irgendwann ins Gästehaus zurück. Oder ich schenke es Paul oder Max oder Mara. Oder einfach allen dreien, und ich bleibe hier, in Madrid. Oder ich reise weiter. Man kann nie wissen, was das Schicksal für einen bereithält.

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