"Noita" - eine Geschichte von Ina Vockenhuber - Young Circle

«Noita» – eine Geschichte von Ina Vockenhuber

Member Stories 2020

«Noita» – eine Geschichte von Ina Vockenhuber

Ein kühler Wind bliess mir meine Haare ins Gesicht. Hektisch strich ich sie hinters Ohr. Meine Augen waren noch immer fixiert auf den Himmel. Es war etwas Kleines, etwas Farbiges was da in der Luft umherwirbelte.

Ich rollte noch mehr von der Schnur aus der Spule. Der Wind schien gut. Der Drache stieg und die Schnur hatte wieder mehr Spannung als gerade noch zuvor. Doch auf einmal kam er mir so schwer vor, als würde jenseits des Drachen eine unsichtbare Hand ihn zu sich ziehen. Der Wind frischte auf und Wolkentürmer bildeten sich. »Der Sturm kommt«, dachte ich und biss mir auf die Lippen. Wie sollte ich den Drachen je heil auf den Boden bringen?

Verzweifelt versuchte ich die Spule wieder aufzurollen, doch der Drachen zog so fest daran und riss hin und her, dass es praktisch unmöglich schien.
Plötzlich hörte ich ein lautes krähen. Es kam so unerwartet, dass ich vor Schreck meinen Griff lockerte. Die Spule sauste aus meiner Hand und schnitt so einen tiefen und hässlichen Strich in meine Haut, dass er in fünf Wochen wahrscheinlich noch immer zu sehen ist.  Ich steckte die Wunde in meinen Mund, um den brennenden Schmerz zu lindern. Meine Augen jedoch wichen nicht von dem bunten flackernden Stofffetzen, der von hier unten wie ein zu oft gebrauchtes Küchentuch wirkte. Dabei hatte ich den Drachen erst vor kurzem zum Geburtstag geschenkt bekommen. Es war der schönste, den ich je besessen habe und wahrscheinlich auch der letzte. So schnell hatte ich noch nie etwas kaputt gemacht und so schnell wird mir meine Mutter bestimmt keinen mehr kaufen. Aber wenn ich ihn jetzt finden würde, könnte ich ihn zumindest flicken und noch einmal damit fliegen.
Meine Entscheidung war bereits gefällt. Der Drache bewegte sich in Richtung untergehender Sonne und genau dahin rannte ich jetzt. Den Forstweg entlang, an dem plätschernden Bach vorbei, neben den Rebbergen weiter, bis ich innehielt. Wo war er hin verschwunden? Keuchend schaute ich mich um. War er nicht gerade noch über den Tannenspitzen gewesen? Och nein! In den Wald!

Die letzten Sonnenstrahlen tätschelten meine Wange und alles schimmerte in einem orange-gelben Licht. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich eigentlich bereits zu Hause sein sollte. Meine Mutter wird sich schreckliche Sorgen machen, doch das war das kleinste Problem im Moment. Einen Drachen aus dem Wald zu holen, dabei sind schon manche gescheitert.

Mein Blick glitt von der Krone des Baumes zum Eingang in den Wald. Am Anfang dachte ich, ich würde es mir nur einbilden. Doch selbst beim zweiten Blick war es noch immer da: Ein verrostetes Gartentürchen. Efeu hatte sich mit den Jahren darüber geschlängelt, sodass man nur Teile vom Tor sah. Jedem anderen wäre es wahrscheinlich gar nicht aufgefallen und diejenigen, die es bemerkt hätten, wären sicher nicht auf die Idee gekommen es zu öffnen. Doch ich musste da rein und zwar schleunigst schnell.
Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Tür, als ich nähertrat. Ich zuckte zusammen. Wie war das möglich? Wie konnte sich diese Tür überhaupt bewegen? Plötzlich wurden Blätter hinter dem Gartentor aufgewirbelt und flogen mir direkt ins Gesicht. Schützend wollte ich meine Hand davorhalten, doch da berührten sie meine Wangen auch schon. Der Dreck verteilte sich und meine Haut fühlte sich auf einmal so trocken an. »Was für eine nette Begrüssung«, dachte ich und trat ein.
Dahinter sah es aus wie ein Garten. Einen verwilderten verlassen Garten. Nur wenig Licht fiel durch das dichte Gestrüpp. An manchen Stellen sogar gar keines. So erschien mir alles ein wenig düster und gruselig. Laub raschelte unter meinen Füssen. Manchmal zerbrachen auch kleine Äste, die mich immer wieder herumfahren liessen. Denn irgendwie hatte ich das ungute Gefühl, dass jemand hier war. Hinter jedem Ast, den ich beiseiteschob vermutete ich, dass mir etwas gleich entgegenspringen wird. Einmal vermutete ich sogar eine alte Hexe, die hier seit Jahrhunderten lebt und alle Eindringliche umbringt. »Das ist so unwahrscheinlich und ausserdem sind nicht alle Hexen böse«, redete ich mir ein und verdrehte dabei die Augen, »Hallte lieber nach dem Drachen Ausschau.«                                                                          
Als ich den nächsten Ast beiseiteschob zuckte ich erstmals zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Einige Meter vor mir stand ein Haus. Ich konnte es kaum glauben. Farbe blätterte schon von den Wänden und an manchen Stellen bröckelte sogar der Putz. Vorhänge verbargen die Sicht nach innen und liessen alles noch grusseliger erscheinen. War es nicht so, dass Ungewissheit Angst hervorruft?   
Mein Blick schweifte auf etwas anderes, etwas Komisches. Es war eine viel zu grosse Statue, die in diesem kleinen, verwilderten Garten einfach fehl am Platz war. Sie hatte eine geschmeidige Katzenform. Für einen Moment fühlte es sich so an, als würden die zwei tiefschwarzen Augen mich funkelnd anstarren. Nach diesem Augenblick schloss ich meine Theorie über die Hexe nicht mehr aus. 

Gerade als ich kehrt machen wollte, fiel mir ein farbiges Stoffteil ins Auge. Es hing im Baum über der Katzenstatue fest. Als ich es genauer betrachtete, stellte ich fest, dass es sich um meinen Drachen handelte. Ich wollte gerade eine Freudetanz vorführen, als mir bewusst wurde wie weit er oben hängte. Um ihn überhaupt mit den Fingerspitzen berühren zu können, müsste ich auf die Skulptur hinaufklettern. »Es wäre möglich«, sagte eine leise Stimme in meinem Kopf. Sie klang zurückhaltend, aber trotzdem musste ich ihr Recht geben. Möglich wäre es tatsächlich.
Also rannte ich dorthin, grub meine Finger so gut es ging in die Ritzen, welche das Fell andeuten sollten. Ich streckte meinen Arm so weit um nur irgendwie an das linke Ohr zu kommen.  Schweisstropfen bildeten sich auf meiner Stirn und meine Hände taten langsam weh. Das scharfe Material schnitt sich in meine Haut. Ich spannte meine Muskeln an, um meine etwas höhere Position nicht gleich wieder zu verlieren. Doch es half nichts. Ich rutsche ab. Fluchend probierte ich es mit Anlauf. Die Chancen schienen gut, doch auch dieses Mal glitt ich mit den Füssen ab. »Noch einmal«, sagte ich zu mir und bis mir auf die Lippen. Mit meinen Augen fixierte ich mein Ziel. Ich ging die Bewegungen nochmals im Kopf durch, atmete tief ein und rannte. Ich hangelte mich so gut es ging nach oben und erreichte endlich das Ohr. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich oben stand.
Die nächsten Sekunden gingen so schnell, dass ich nicht viel mitbekam. Meine Schuhe fanden den Halt auf der glatten Oberfläche nicht und rutschten weg. Im gleichen Moment verlor ich das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Ich war unfähig irgendetwas zu tun oder zu denken. Das einzige, an dass ich mich noch erinnern konnte, war der plötzlich stechende Schmerz am Hinterkopf und eine Berührung an meinen Schultern.

Neben mir piepste etwas ununterbrochen, als ich langsam wieder zum Bewusstsein kam.  Es fühlte sich weit weg an, so dumpf irgendwie. In der Nähe hörte ich Stimmen und Schritte. Als ich meine Augen langsam öffnete, fühlte ich mich schlaff. Mein Kopf dröhnte und ich starrte auf eine Krankenhausdecke. Neben mir hörte ich die Stimme einer bekannten Person: »Cora? Cora bist du wach?« Es war meine Mutter. Ich drehte meinen Kopf in ihre Richtung. Ihr Blick war irgendwie voller Kummer, aber ihr Lächeln zeigte eine Erleichterung. Wir umarmten uns freudig. Als wir uns voneinander lösten, wedelte sie mit meinem Drachen herum. »Woher hast du den?«, stotterte ich. »Die Krankenschwester hat ihn mir gegeben, Schatz.« Ich schaute sie verwirrt an, aber nahm den Drachen dankbar entgegen. »Warum hatte sie den meinen Drachen, Mama? Hast du mich nicht hierhergebracht?«, fragte ich verwirrt. Sie lächelte besorgt und irgendwie so unwissend. »Nein Schatz, habe ich nicht.«, sagte sie und schnappte nach Luft. Meine Augen weiteten sich und ein Schauer lief mir über den Rücken. »Aber wer dann?«, fragte ich. Meine Mutter deutete auf den Drachen. Mir stockte der Atem und mein Kopf drehte sich. In einer eher unleserlichen Schrift stand unter einem kleinen Text das Wort  noita. Mir wurde schlecht. Nur meine finnische Grossmutter hätte es besser verstanden.

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