"Ein vergessener Detektiv" - eine Geschichte von Blerta Azi - Young Circle

«Ein vergessener Detektiv» – eine Geschichte von Blerta Azi

Member Stories 2020

«Ein vergessener Detektiv» – eine Geschichte von Blerta Azi

Die Glühbirne erleuchtet den mickrigen Raum in einem schwachen Licht. Mich überkommt ein wohliges Gefühl, als ich in das vertraute Zimmer trete und routiniert über die Unordnung von alten Akten und Berichten hinwegsehe. Hunderte Psychologiebücher stapeln sich in den Ecken des Raumes. Der Staub auf den Buchdeckeln ist schon von weitem zu erkennen.

Früher habe ich die Verhaltensweisen von Menschen rauf und runter studiert. Mir alles eingeprägt, um ja kein Detail zu vergessen. Ich versuchte immer auf dem neuesten Stand zu sein und verlor mich in der nonverbalen Sprache. Heute lese ich Menschen wie offene Bücher, ganz ohne Worte. Ich war noch nie ein Fan grosser Worte. Mich irgendwo mündlich zu beteiligen, Konversationen zu führen, war für mich nie von Wichtigkeit. Ich lege den Mantel ab und schreite zu meinem Schreibtisch. Seit ich selbstständig geworden bin, komme ich mit der Arbeit besser voran. Es gibt kein Gehetze und ich kann in meinem eigenen Tempo arbeiten. Für Perfektionisten wie mich, ist es schwierig, top Leistungen zu erbringen und dabei zu den Schnellsten zu gehören. Ich krame in der Schublade nach den Akten zu meinem aktuellen Fall. Als ich nach einigen Sekunden realisiere, dass sie nicht greifbar sind, lasse ich mir nichts anmerken. Ich tu so, als denke ich, ich hätte sie irgendwo verlegt. Dabei sind mir die verrutschten Mappen und Post-Its auf meinem Schreibtisch schon aufgefallen, als ich den Raum betreten habe. Er war vorsichtig. Aber nicht vorsichtig genug. Mein Körper ist ein wenig in die Jahre gekommen, mein Verstand aber hat noch nie so gut funktioniert. Ich greife nach der Waffe, die ich immer bei mir trage und schleiche langsam aus dem Zimmer. Mein Blick schweift den Gang entlang. Dritte Tür von links. In Null komma Nichts, stehe ich vor der Tür, laufe mit ausgestreckter Waffe hinein und finde einen etwa 25 Jahre alten Mann auf dem Bürostuhl sitzen.
»Winston.« Mit einem leichten Lächeln sieht er mich an. »Welche Ehre, Sie treffen zu dürfen.«
Seine Waffe liegt locker in seiner rechten Hand. Mit der linken Hand hat er seinen Daumen umschlossen, seine Füsse sind standhaft auf dem Boden. Unsicherheit und Sicherheit gleichzeitig.
Ich blicke ihm in seine Augen, in denen der Wahnsinn tobt. Was verleitet diesen Mann zu solch grausamen Taten?
»Kann ich nicht zurückgeben«, antworte ich trocken.
»Oh, oh«, sagt er und steht in einem Schwung auf, woraufhin er den Stuhl ein wenig nach hinten stösst. Er geht mit graziösen Schritten um den Tisch herum, um sich vorne an ihn anzulehnen. Er stützt sich mit den Händen ab und überkreuzt seine Füsse. Er versucht sich locker zu geben, aber an seinen Fingern, die sich krampfhaft am Tisch festhalten, merke ich, dass er nicht annähernd so entspannt ist, wie er tut.
»Was will ein alter Mann wie Sie mir antun?« Er legt den Kopf schief und wartet auf eine Antwort.
Ich trete einen Schritt zur Seite, um de Tür abzudecken. Auch wenn ich nicht denke, dass er versuchen wird durch die Tür zu flüchten. Er erscheint mir wahnsinnig genug, das Fenster zu benutzen – obwohl wir uns im 2. Stock befinden.
»Die Frage ist doch, was Sie mir antun können.« Die Waffe in seiner Hand ist nicht geladen. Ich könnte ihn innerhalb von fünf Sekunden auf den Boden legen – entwaffnet. Zwei Handgriffe und er wäre überführt.
Er schnalzt mit der Zunge. »Dann versuchen sie es«, flüstert er und reisst seine Augen auf. »Jetzt.«
Ich schüttele meinen Kopf und vergleiche die Distanz zum Fenster mit der Distanz zu mir. »Dann wäre doch die ganze Spannung weg.«
Der Wahn, in dem er sich befindet, lässt ein wenig von ihm ab und sein Blick wird klarer. Er richtet sich zu seiner vollen Grösse auf und stellt sich breitbeinig hin. Er fühlt sich bedroht von mir.
»Also sind Sie eher der Spannungs-Typ?«
Ich nicke und nehme ebenfalls meine Position ein. Jede kleinste Veränderung seines Wesens nehme ich wahr und analysiere sie. Für eine Millisekunde gleitet sein Blick von mir weg und ich weiss, dass ich weniger als zwei Sekunden Zeit habe, bis er seine Waffe geladen hat. Blitzschnell schiesse ich hervor, schlage ihm die Waffe aus der Hand, packe seinen Arm, bevor er realisieren kann, was gerade passiert ist und ziehe ihn in die Höhe, während ich mit dem Fuss gegen sein Schienbein schlage. Er landet auf den Knien und kann sich gerade noch mit einer Hand abstützen, bevor ich ihn mit dem Gesicht zu Boden drücke und seine Hände hinter dem Rücken verschränke. Wie ein kleines Kind strampelt er mit den Füssen und windet sich unter meinem Griff. Auch wenn es mich einige Kraft kostet, lasse ich keinen Zentimeter von ihm ab.
»Wie … wie konnten Sie … Sie«, stammelt er.
»Ein alter Mann, der von Spannung spricht, ist nicht zu unterschätzen. »Wir danken Ihnen, Mr. Winston.«
»Ja, ja. Jedes Mal danken Sie mir, wenn Sie mich loshaben wollen.«
» Aber nein, wir schätzen Ihre Arbeit wirklich sehr, Mr. Winston«, stammelt der Polizist, der vor Scham rot anläuft.
»Wie alt sind Sie, mein Junge?« Er weicht meinem Blick aus. Na, hoffentlich ist er nicht so drauf, wenn er gerade Täter überführt.
»21.«
»Ah«, ich klopfe ihm auf die Schulter, »gerade erst hier begonnen?«
Bevor er etwas darauf erwidern kann, kommt ein schon in die Jahre gekommener Mann um die Ecke. Bei seinem Anblick, dreht sich der Jüngling auf dem Absatz um und rauscht davon.
»Ein Neuer?«, frage ich mit einem belustigten Unterton, aber Harrison starrt mich einfach nur mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Wir brauchen Sie kurz, Winston.« Erneut zieht er seine Augenbrauen zusammen und blickt zu lange auf seine Unterlagen. Es ist ihm deutlich unangenehm.
Mein Magen rebelliert. »Ich arbeite nicht mehr für Sie.«
Seine Augen sind überall, nur nicht auf meinem Gesicht. »Wir haben da aber einen Täter, den wir gleich zum ersten Mal vernehmen und wir … bräuchten Ihre Hilfe.«
Harrison hat noch nie viel von mir gehalten, weshalb ihm diese Bitte nur schwer über die Lippen kommt.
»Wohin?«, brumme ich und verwerfe den Gedanken von einem freien Nachmittag.
Während wir durch den endlosen Gang laufen, erklingt bei jedem seiner Schritte ein dumpfer Ton. »Sind Sie es nicht leid, immer mich darum zu bitten?«
In seinen Augen lodert Wut. »Wir finden sonst niemanden.«
»Dann sollte ich mich geehrt fühlen«, erwidere ich und weiss, dass er nicht darauf antworten wird. Harrison stoppt vor einem Zimmer und lässt mich eintreten. Wir gelangen in einen Nebenraum des Verhörzimmers, das nur von einer Glasscheibe abgetrennt wird. Durch die Lautsprecher bekommen wir in wirklich lausiger Qualität zu hören, was im Verhör gesagt wird. Im Verhörzimmer sitzen ein etwa 30-järhiger Mann und ein Polizist. Dem Mann wurden Handschellen angelegt, aber an seiner Körperhaltung erkenne ich, dass er sich von einem paar Handschellen nicht behindern lassen wird.
»Ich bin bereit«, sage ich zu Harrison
Er reicht mir einen Block, den ich kopfschüttelnd ablehne. »Ich brauche mir keine Notizen zu machen.«
Mit gerunzelter Stirn tritt er in den hinteren Teil des Raumes und blickt auch zum Verhörzimmer. Die Lautsprechanlage knackt und eine Sekunde später höre ich die Stimme des Polizisten: »Wo waren Sie zur Tatzeit?«
Der Täter pflanzt sich lässig in den Stuhl. »Wann war denn die Tatzeit?«
Ich unterdrücke mit Mühe ein Grinsen.
»Zwischen 20 und 21 Uhr.«
Der Mann überlegt, heftet seinen Blick an die Decke, kräuselt seine Nase und lehnt sich schliesslich nach vorne. »Auf dem Markt.«
»Er hat nur so getan, als würde er überlegen«, sage ich zu Harrison, damit er es aufschreiben kann. Er seufzt, beginnt aber trotzdem zu notieren.
»Also waren Sie am Tatort?«
Er runzelt die Stirn und kneift seine Augen dabei zu fest zusammen. Gleichzeitig legt er seinen rechten Arm auf den Tisch, was eine Art Barriere zwischen ihm und dem Polizisten schafft. »Wo befindet sich der Tatort?«
»Er weiss, wo sich der Tatort befindet.« Ich wende meinen Blick nicht von dem Mann ab.
»Auf dem Markt«, antwortet der Polizist.
Der Mann lehnt sich nach hinten und lässt die Hände auf dem Bauch liegen. Wegen der Handschellen kann er sie zwar nicht zur Seite nehmen, aber er verschränkt die Finger ineinander. Er fühlt sich momentan nicht wohl. Sein rechter Mundwinkel zieht sich in die Höhe, was einen Ausdruck von Lässigkeit vermitteln sollte. Nun, bei mir klappt das nicht.
»Haben Sie einen Komplizen?«
Der Täter befeuchtet seine Lippen, lehnt sich wieder vor und rutscht beinahe unbemerkbar auf dem Stuhl herum. Er holt zu einer Antwort aus, sagt aber nichts.
Ich drehe mich zu Harrison um. »Er ist es.«

Die kalte Abendluft hüllt mich ein, als ich mich auf dem Weg zu meiner Wohnung befinde. Nach einigen misstrauischen Fragen von Harrison hat er mich schliesslich gehen lassen. Ich gehe unter einer Strassenlaterne durch und komme nach einigen weiteren Schritten an der Haustür an. Ich sperre sie auf und drücke mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen, damit sie aufschwingt. Dieses Gebäude stand schon, als ich geboren wurde. Mit langsamen Schritten gehe ich die Treppen hinauf und wische die Schuhsohlen an der Fussmatte ab. Als ich nach unten schaue, bemerke ich, dass die Fussmatte ein wenig verschoben wurde. Mein Blick gleitet zum Türschloss – keine Kratzspuren. Also ist er durch die Balkontür hereingekommen. Entschlossen schliesse ich die Tür auf und trete ein. Ich höre keine verdächtigen Geräusche. Entsetzt realisiere ich, dass die Schubladen durchwühlt wurden. Zwar wollte der Täter es so ausschauen lassen, als wäre er nie hier gewesen, aber meinen Augen entgeht nichts. Die Badezimmertür ist geschlossen. Nach einigen weiteren Sekunden, in denen ich ganz normal meine Jacke abgezogen und aufgehängt habe, krame ich in der Schublade nach meiner Ersatzpistole. Meine Hand ertastet Leere. Verdammt.


Seit Wochen schon arbeite ich an diesem Fall. Eine Mutter, besorgt um ihren Sohn hat mich angeheuert. Dass es sich bei ihrem Sohn um einen gesuchten Kriminellen handelt, wusste sie nicht. In meiner Laufbahn als Polizist habe ich Tyler Richards wegen Mordes festgenommen. Jedoch mussten wir ihn aufgrund mangelnder Beweislage gehen lassen. Jeder von uns war damals der festen Überzeugung, dass er der Täter war, jedoch hat er nicht gestanden und seine Spuren zu gut verwischt. Richards hat eine Psychose, die verursacht, dass er denkt, er sei Gottes Gesandter. Er müsse die Bösen für ihn überführen. Schon einige Male war er in der Klinik, jedoch ist er immer wieder herausgekommen, da die Ärzte meinen, er mache jedes Mal sehr gute Fortschritte. Trotz der Psychose weiss er, was er tut.


    Es war schwierig ihn aufzuspüren. Er hat sich gut versteckt und in der Zwischenzeit drei weitere Morde begangen, die jedoch nie bei der Polizei gemeldet wurden. Richards hat jedoch nicht nur neue Mordopfer gefunden, sondern auch viele neue Freunde dazugewonnen. Und einer dieser Freunde sitzt gerade in meinem Badezimmer und wartet auf mich.

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