"82 Jahre" – Eine Geschichte von Emilie Wehren - Young Circle

«82 Jahre» – Eine Geschichte von Emilie Wehren

Member Stories 2024

«82 Jahre» – Eine Geschichte von Emilie Wehren

Heinz Walter blickt auf ein erfülltes Leben zurück, während er durch die herbstliche Landschaft seines Heimatdorfes spaziert und Erinnerungen an Liebe, Verlust und Freundschaft wachruft. Als er zufällig seinen alten Freund Frank wiedertrifft, der ihm einst so viel bedeutete, stellt sich die Frage, ob es nie zu spät ist, alte Wunden zu heilen und verlorene Beziehungen neu zu beleben.

82 Jahre. So lange lebte er jetzt schon. Eine lange Zeit. Heinz Walter sah durch sein Fenster, das ihm einen schönen Blick auf die Alpen bot. Es war Spätsommer und die Blätter verfärbten sich langsam von einem satten Grün zu einem rostigen Braun. Er lächelte. Dann stand er auf, ging schweren Schrittes Richtung Türe und zog sich einen Mantel über. Draussen war es kalt, wie so oft an frühen Morgen des sich nahenden Herbstes. Er zog den Mantel fester um seinen Körper, während er bedächtig die Stufen, die von seiner Haustüre wegführten, hinabschritt. Das Lied einer Amsel erklang, lächelnd sah er zu seiner Birke hinüber. Vor 52 Jahren hatte er sie gepflanzt, zusammen mit Margrit. «Bist du dir sicher, dass du sie genau hier einpflanzen willst? Dort drüben wäre es doch auch schön», sagte Margrit stirnrunzelnd. Ihr seidiges dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht. Ich lachte: «Ja, dort ist perfekt.» Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen, nun war sie fort und bald würde er ihr folgen. Er riss sich los und lief weiter. Alsbald kam er an einem Brunnen vorbei. Dort hatte er als Kind gespielt, zusammen mit Erich. Lachend bespritzten wir uns mit Wasser und rannten um den Brunnen herum. Es war eine unbeschwerte Zeit. Die Sonne beschien unsere Gesichter und hinterliess ein Strahlen, das lange Zeit nicht verblassen sollte. So viele Erinnerungen verbargen sich in diesem Dorf. Beinahe sein ganzes Leben hatte er hier verbracht. Er hob den Blick gegen den Himmel. Wolkenberge türmten sich dort auf, ein Wolkenfetzen löste sich.

Und wenn man die Augen fest zusammenkniff, sah man zwei Menschen tanzen. Sie tanzten noch eine Weile über den Himmel bis sie schliesslich mit einem Wolkenberg verschmolzen. Blätter wirbelten durch die Luft. Er schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Er hatte viel gesehen, viel geliebt, viel erlebt und gelebt. Es gab eine Menge, die er noch tun wollte, doch wozu leben, wenn man bereits alles erreicht hat? Denn das war es, was sein Leben so schön gemacht hatte, er hatte geträumt und gehofft. Geweint und gelacht. «Weisst du mein Sohn», sagte sein Vater, «ich habe viel geleistet in meinem Leben, aber du, du bist meine grösste Leistung. Ich bin stolz auf dich und werde es auch immer sein egal, was du tust.» Ich sah ihn an, verstand nicht, und dann war er fort. Heinz hat sein Leben gelebt, der Spaziergang liess in weiterleben. Jeden Morgen fiel ihm etwas Neues auf. Ein neues Vogelnest, eine neue Leckerei im Schaufenster des Bäckers, die natürlich sofort probiert werden musste. Wenn seine Enkel zu Besuch waren, sassen sie im Garten und spielten UNO. Sie erzählten ihm dabei, wie es ihnen erging, und er erfreute sich daran. Irgendwann mal kam er zu einer Bank. Er setzte sich, nach diesem Spaziergang war er immer müde. Von hier aus konnte man sogar den Gletscherriesen ausmachen, auch wenn er in den letzten Jahren stark zurückgegangen war. Er erinnerte sich noch daran, wie der Gletscher bis ins Tal hinab gekommen war. So viel hatte sich seitdem verändert… Er sah in die Ferne. Er erinnerte sich auch an den Schmerz, den der Gletscher gebracht hatte.

«Wieso kannst du einfach normal sein?», mein Vater sah mich anklagend an. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. «Wieso kannst du mich nicht so akzeptieren wie ich bin?», brüllte ich ihn an, «Was ist verdammt noch mal so schlimm daran anders zu sein? Was ist so schlimm daran, dass ich einen netten, verständnisvollen und umwerfenden Jungen liebe? Was ist so schlimm daran.» Meine Stimme brach. Vater sah mich an. «Du bist nicht mein Sohn.», sagte er mit zitternder Stimme. «Verlasse dieses Haus und komm nie wieder. Du bist dieser Familie nicht würdig», er zeigte mit zitterndem Finger auf mich. «Hau ab!», er brüllte mich an. Jedes seiner Worte fühlte sich an, als würde ein Dolch auf mich einstechen. Ich drehte mich und rannte aus dem Haus. Er schloss die Augen. Ein paar Wochen später starb sein Vater in einer Gletscherspalte, ohne dass sich Heinz jemals mit ihm hätte aussprechen können. Kurz danach hatte er Margrit Müller geheiratet. Vermutlich um seinem Vater zu beweisen, dass er kein kompletter Versager war. Seinen Freund hat er nie wieder gesehen. Er hatte seine Chance vor langer Zeit verpasst, dachte er traurig. Die Tage vergingen. Jeden Morgen setzte er sich aufs Neue auf diese Bank und genoss die Aussicht. Eines Tages sass ein anderer alter Mann bereits dort. Verwundert blieb Heinz stehen. «Jemand hat mir mal erzählt, dass herumsitzen etwas für alte Leute ist», der alte Mann lachte, er drehte sich um und lächelte verschmitzt. Das konnte nicht sein. Heinz schluckte schwer, fühlte sich wie ein kleiner Junge. Unsicher, verlegen. «Frank?», fragte er heiser. Der andere alte Mann nickt verlegen: «Es tut mir leid, ich hätte schon viel früher kommen sollen.» Eine Weile sehen sie sich einfach an, dann deutet Frank neben sich auf die Bank. Heinz setzte sich in Bewegung und setzte sich neben ihn. Er fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge. Frank nimmt Heinz’ Hand und drückt sie. Eine Weile sitzen die beiden einfach so. Alles erscheint in leuchtenden Farben.

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